Die HAITIsche Revolution und das Versagen der europäischen Ontologie und Kategorien - Teil 1/3
von Michel-Rolph Trouillot
© Transkription, Titel:
Kouadio Boua /
Kagemni Djikeungoué Pente
Eine Undenkbare Chimäre
Im Jahr 1790, wenige Monate vor der Erhebung, welche die Insel Saint-Domingue erschütterte und zur revolutionären Geburt des unabhängigen Haiti führte, versicherte der französische Kolonist La Barre seiner in der Metropole verbliebenen Gattin, wie friedlich die Lebensumstände in den Tropen seien. Er schrieb: »Unter unseren Negern gibt es keine Bewegung.[...] Sie denken nicht im Traum daran. Sie sind sehr ruhig und gehorsam. Eine Revolte unter ihnen ist unmöglich.« und noch einmal: »Die Neger sind sehr gehorsam und werden es immer bleiben. Wir schlafen bei offenen Türen und Fenstern. Freiheit für Neger ist eine Chimäre.« (Zitiert in Dornsinville 1965)
La Barres Ansichten waren keineswegs außergewöhnlich. So versicherte ein Plantagenverwalter seinem Patron wiederholt mit fast denselben Worten: »Ich lebe ruhig mitten unter ihnen ohne den geringsten Gedanken, dass sie sich erheben könnten, solange sie nicht von Weissen dazu angestachelt werde.« (Zitiert in Cauna 1987) Manchmal regten sich dennoch Zweifel. Aber die praktischenVorsichtsmaßnahmen der Pflanzer zielten auf die Verhinderung von Einzelaktionen oder schlimmstenfalls eines spontanen Aufstans. Niemand in Saint-Domingue oder anderswo machte sich je die Mühe, einen Reaktionsplan für den Fall einer allgemeinen Erhebung auszuarbeiten.
Die Meinung, dass versklavte Afrikaner und ihre Nachfahren sich Freiheit überhaupt nicht vorstellen, geschweige denn Strategien zu ihrer Eroberung und Verteidigung entwickeln könnten, beruhte weniger auf empirischer Erfahrung als auf einer Ontologie, einer stillschweigend vorausgesetzten Anordnung der Welt und ihre Bewohner. Obschon diese Weltanschauunng nicht monolithisch war, wurde sie von vielen Weissen in Europa und Amerika und von vielen nichtweissen Plantagen besitzern geteilt. Sie ließ Platz für eine gewisse Variation, aber die Möglichkeit einer revolutionären Erhebung auf den Sklavenplantagen gehörte mit Sicherheit nicht dazu und schon gar nicht die Vorstellung, daß eine solche Revolution erfolgreich sein und zur Gründung eines unabhängigen Stattes führen könnte.
Die haitische Revolution ging also, bereits während sie sich ereignete, mit dem eigentümlichen Merkmal ihrer Undenkbarkeit in die Geschichte ein. Die offiziellen Debatten und Veröffentlichungen jener Zeit einschließlich der langen Liste von Pamphleten aus Saint-Domingue, die zwischen 1790 und 1804 in Frankreich erscheinen, machen deutlich, wie schwer sich die Zeitgenossen damit taten, die revolutionäre Entwicklung in ihrer eigenen Logik zu begreifen.[1] Sie konnten die Nachrichten nur mit Hilfe ihrer vorgefertigten Kategorien lesen, und diese Kategorien schlossen die Vorstellung einer Sklavenrevolution von vornherein aus.
Der diskursive Kontext, in dem die Neuikeiten aus Saint-Domingue seinerzeit diskutiert wurde, hatte erhebliche Auswirkungen auf die Geschichtsschreibung von Saint-Domingue/Haiti. Wenn Ereignisse, sogar während sie sich vollziehen, nicht akzeptiert werden können, wie sollen sie dann später beurteilt werden können? Oder anders gesagt: Können historische Erzählungen einer Logik folgen, die in der Welt, in der diese Erzählungen stattfinden, als undenkbar gilt? Wie schreibt man eine Geschichte des Unmöglichen? Die zentrale Frage hier ist nicht ideologischer Natur. Ideologische Darstellungen sind heutzutage eher in Haiti selbst anzutreffen(in Form epischer oder unverhohlen politischer Interpreationen der Revolution, wie sie von einigen haitischen Schriftstellern vorgebracht werden) als unter den professionellen Gelehrten in Europa und Nordamerika, die einen recht strengen Umgang mit Daten und Quellen pflegen. Die internationale Erforschung der haitischen Revolutionen hat sich seit 1940 gemessen an modernen Standards der Auswertung ihrer Quellen als recht zuverlässig erwiesen. Das Problem ist eher epistemologischer und daher im weitesten Sinne methodologischer Natur. Ungeachtet des gewissenhaften Umgangs mit Quellen stellt sich nämlich die Frage, inwiefern die moderne Geschictsschreibung der haitischen Revolution - als Teil des anhaltenden westlichen Diskurses über Sklaverei, Rasse und Kolonisierung - bereits die ehernen Bande des philosophischen Milieus, in dem sie geboren wurde, hat sprengen können.
Das Bild vom Menschen
Der Westen wurde irgendwann zu Beginn des 16. Jahrhunderts inmitten einer globalen Welle von materiellen und symbolischen Transformationen geschaffen. Die endgültige Vertreibung der Muslime in Europa, die sogenannten Entdeckungsreisen, das erste Auftreten eines merkantilen Kolonialismus und das Heranreifen absolutischer Staaten bildeten den Hintergrund, vor dem die Herrscher und Händler der westlichen Christenheit zur Eroberung von Europa und der restlichen Welt ansetzten. Diese historische Agenda war politisch, wie die inzwischen wohlbekannten Namen belegen, die einem dabei in den Sinn kommen - Kolumbus, Magellan, Karl V., die Habsburger - , und ebenso die Wendepunkte, die ihr Tempo bestimmen - die Reconquista von Kastilien und von Aragon, die Gesetze von Burgos, der Übergang der päpstlichen Macht von den Borgia auf die Medici.
Die politischen Entwicklungen liefen parallel zur Ausbildung einer neuen symbolischen Ordnung. Die Erfindung von Nord- und Südamerika(durch Waldseemüller, Vespucci und Balboa) und gleichzeitig die Erfindung Europas, die Zweiteilung des Mittelsmeerraums durch eine imaginäre Linie, die südlich von Gadiz begann und nördlich von Konstantinopel endete, die verwestlichung des Christentums und die Erfindung einer grieschich-römischen Vergangenheit für Westeuropa waren sämtlich Aspekte jenes Prozesses, durch den Europa mit dem Westen indentifiziert wurde(vgl. M.-R. Trouillot 1991, S. 17-44). Die sogenannte Renaissance, die viel eher eine Neuerfindung als eine Wiedergeburt war, mündete in eine Reihe von philosophischen Fragen, auf die Politiker, Theologen, Künstler und Soldaten mal konkrete, mal abstrakte Anworten gaben. Was ist Schönheit? Was ist der Staat? Doch vor allem: Was ist der Mensch?
Die Philosophen, die sich mit dieser letzten Frage beschäftigten, konnten schwerlich an dem Prozeß der Kolonisierung vorbeisehen, der sich unter ihren Augen vollzog. Menschen (Europäer) eroberten, töteten, beherrschten und versklavten andere Lebewesen, die zumindest von einigen Zeitgenossen für nicht weniger menschlich gehalten wurden. Der Wettstreit zwischen Bartolomé de Las Casas und Juan Ginés de Sepúlveda in Valladolid in den Jahren 1550 und 1551 über das Wesen und Schickasal der Indianer war nur ein Beispiel für diese fortlaufende Auseinandersetzung zwischen dem Symbolischen und Praktischen. Daraus erklärt sich auch die Zweideutigkeit des frühen Las Casas, der sowohl an die Kolonisierung als auch an die Menschlichkeit der Indianer glaubte und die beiden Positionen nicht miteinander vereinbaren konnte. Aber trotz Las Casas und anderer hat die Renaissance die Frage nach dem ontologischen Status der eroberten Völker nicht geklärt – und nicht klrären können. Wie man nur allzu gut weiß, ließ sich Las Casas auf einen armseligen und zweischneidigen Kompromiß ein, den er später selbst bereute: Freiheit für die Wilden(die Indianer) und Sklaverei für die Barbaren(die Afrikaner). Die Kolonisierung hatte eine Schlacht gewonnen.
Das 17. Jahrhundert brachte die zunehmende Involvierung Englands, Frankreichs und der Niederlande in Nord- und Südamerika und ihre verstärkte Beteiligung an Sklavenhandel. Das 18. Jahrhundert folgte denselben Spuren, allerdings mit einem Anflug von Perversität: Je mehr andere Männer und Frauen durch europäische Kaufleute und Söldner gekauft und erobert wurden, desto intensiver schrieben und diskutierten die europäischen Philosophen über den Menschen als solchen. Außerhalb des Westens erscheint das Jahrhundert der Aufklärung mit seinem außerordentlich gesteigerten philosophischen Räsonnement einerseits und seiner zunehmenden Beobachtung der kolonialen Praxis andererseits als ein Jahrhundert der Verwirrung. Es gab keine einheitliche Auffassung über die Schwarzen – oder jede beliebige andere nicht-weisse Gruppe – selbst innerhalb einzelner europäischer Bevölkerungsgruppen. Statt dessen unterwarf man die nicht-europäischen Gruppen den verschiedensten philosophischen, ideologischen und praktischen Schemata. Für unsere Zwecke ist vor allem bedeutsam, dass alle diese Schemata auf der Annahme unterschiedlicher Grade des Menschseins basierten. Egal, ob die Einstufung der Menschen nach ontologischen, ethischen, politischen, wissenschaftlichen, kulturellen oder einfach nur pragmatischen Kriterien erfolgte, alle diese Schemata unterstellten und bekräftigten letzten Endes, dass manche Menschen mehr Mensch waren als andere.
Und so schienen der Mensch (im Singular) innerhalb des westlichen Horizonts gegen Ende des Jahrhunderts hauptsächlich als europäisch und männlich. Über diesen einzigen Punkt war man sich allgemein einig. Zu den Menschen zählten weiterhin, wenn auch in geringerem Grade, Frauen europäischen Ursprungs wie die französischen citoyennes oder zweifelhafte Weisse wie die europäischen Juden. Weiter unten auf der Skala befanden sich Völker mit starken staatlichen Organisationsstrukturen wie Chinesen, Perser und Ägypter; sie übten eine besondere Anziehungskraft auf einige Europäer aus, weil sie zugleich » fortgeschrittener « und potentiell bösartiger erscheinen als die westeuropäischen Nachbarn. Eine schüchterne Minderheit von Zeitgenossen war bereit, den begriff Mensch auch auf verwestliche Menschenwesen, die sich willig in die Kolonisierung schickten, auszudehnen. Aber im Zweifel wurde die Klassifikation eher restriktiv gehandhabt: Verwestlichte (oder genauer: » verwestbare « ) Menschenwesen aus Afrika oder aus Nord- oder Südamerika standen auf der untersten Stufe dieser Nomenklatur. [2]
Negative Konnotationen von Hauptfarben, die zunehmend als »schwarz « markiert klassifiziert wurden, begannen sich im Spätmittelalter im Christentum zu verbreiten. Sie wurden durch die phantasievollen Beschreibungen von Mittelalterlichen Geographen und Reisenden verstärkt. So bekam beispielsweise das Wort »nègre « in den französischen Wörterbüchern und Glossaren von seinem ersten Auftreten im Jahr 1670 bis zu den Universalwörterbüchern, die der großen Enzyklopädie vorausgingen, immer deutlicher einen negativen Unterton (notre Librairie 1987; Delesalle/Valensi 1969). Mitte des 18. Jahrhunderts schließlich war »schwarz « gleichbedeutend mit »schlecht «. Dazwischen lag – die Ausweitung des afrikanisch-amerikanischen Sklavenhandels.
Die eher abstrakte Nomenklatur, die aus der Renaissance übernommen worden war, wurde einerseits in ihrer Gesamtheit reproduziert und bekräftigt, andererseits jedoch auch durch die koloniale Praxis und die philosophische Literatur in Frage gestellt. Das heißt, die koloniale Praxis des 18. Jahrhunderts brachte sowohl die Gewißheiten als auch die Ambivalenzen jener ontologischen Ordnung zum Vorschein, die mit dem Aufstieg des Westens einherging.
Die Kolonisierung lieferte den stärksten Impuls zur Transformation des europäischen Ethnozentrismus in einen wissenschaftlich begründeten Rassismus. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts berief man sich zur ideologischen Rationalisierung der afro-amerikanischen Sklaverei in wachsendem Maße auf Formulierungen, die aus der ontologischen Ordnung der Renaissance stammten. Aber indem man dies tat, veränderte man das Weltbild der Renaissance. Man verknüpfte die vermeintlichen Ungleichheiten unter den Menschen mit jenen Praktiken, durch die sie reifiziert wurden: Da die Schwarzen Untermenschen waren, wurden sie versklavt; da die schwarzen Sklaven sich schlecht benahmen, mußten sie Untermenschen sein. Kurzum, die Praxis der Sklaverei in Nord- und Südamerika zementierte die Stellung der Schwarzen am unteren Ende der Menschenwelt.
Kaum war der Platz der Schwarzen am unteren Ende der westlichen Nomenklatur sichergestellt, wurde der antischwarze Rassismus auch schon zu einem beherrschenden Element in der Ideologie der karibischen Pflanzer. Mitte des 18. Jahrhunderts verschoben sich in Europa die Argumente zur Rechtfertigung der Sklaverei auf dem Antillen und in Nordamerika und verschmolzen mit der rassistischen Geistesströmung, die im Rationalismus des 18. Jahrhunderts angelegt war. Die französische Literatur ist in diesem Punkt besonders aufschlußreich, jedoch keineswegs einzigartig. Buffon war ein leidenschaftlicher Verfechter der Monogenese: Die Schwarzen gehörten seiner Ansicht nach keiner anderen Gattung an. Dennoch seien sie hinreichend verschieden, um versklavt zu werden. Voltaire widersprach, aber nur teilweise. Die Neger gehörten zu einer anderen Gattung, die kulturell für Sklaverei prädestiniert sei. Daß der materielle Wohlstand vieler dieser Denker häufig indirekt und manchmal sogar direkt auf der Ausbeutung der afrikanischen Sklavenarbeit beruhte, dürfte nicht ganz ohne Einfluß auf ihre gelehrte Meinung gewesen sein. Zur Zeit der amerikanischen Revolution war der wissenschaftlich begründete Rassismus, den viele Historiker fälschlicherweise dem 19. Jahrhundert zuschreiben, bereits fest in der ideologischen Landschaft der Aufklärung beiderseits des Atlantik verankert.[3]
Die Aufklärung vertiefte also die fundamentalen Ambivalenzen, die das Zusammentreffen von ontologischem Diskurs und kolonialer Praxis beherrschten. Während die Philosophen einige der aus der Renaissance überkommenen Antworten formulierten, stieß sich die Frage »Was ist der Mensch? « von neuem an den Praktiken der Dominanz und merkantilen Akkumulation. Die Kluft zwischen Abstraktion und Praxis wurde immer größer oder, besser gesagt, der Umgang mit den Widersprüchen zwischen beiden wurde immer reffinierter, nicht zuletzt weil die Philosophie genau so viele Antworten zu liefern begann wie die koloniale Praxis. Das Zeitalter der Aufklärung war eine Epoche, in der Sklaventreiber von Nantes Adelstitel kauften, um mit Philosophen umherzustolzieren, und in der Freiheitskämpfer wir Thomas Jefferson zugleich Sklavenhalter sein konnten, ohne unter dem Gewicht ihrer intellektuellen und moralischen Widersprüche zusammenzubrechen.
Im Namen von Freiheit und Demokratie trafen denn auch im Juli 1789 wenige Tage vor der Erstürmung der Bastille, ein paar Pflanzer aus Saint-Domingue in Paris zusammen, um die neue französische Nationalversammlung dazu aufzufordern, zwanzig Deputierte aus der Karibik in ihre Reihen aufzunehmen. Die Pflanzer hatten Zahl weitgehend mit Hilfe derselben Methoden errechnet, die auch in Frankreich zur Zustellung von Deputierten benutzt wurden, nur dass sie durchaus mit Bedacht die schwarzen Sklaven und die gens de couleur zur Inselbevölkerung hinzugezählt hatten, obwohl sie natürlich nicht im Traum daran dachten, diesen Nichtweißen das Wahlrecht einzuräumen. Honoré Gabriel Riquetti, Comte de Mirabeau, ergriff in der Sitzung vom 3. Juli 1789 das Wort, um aberwitzigen Berechnungen der Pflanzer zu entlarven. Mirabeau erklärte der Versammlung: « Zählen die Kolonien ihre Neger und ihre gens de couleur zur Klasse der Menschen oder zu derjenigen der Lasttiere? Wenn die Kolonien die Neger und gens de couleur als Menschen gezählt wissen möchten, sollten sie ihnen zuerst das Wahlrecht geben; so dass alle wählen und alle gewählt werden können. Falls nicht, bitten wir sie zu beachten, dass wir bei der Verteilung der Anzahl der Deputierten auf die Bevölkerung Frankreichs werder die Anzahl unserer Pferde noch diejenige unserer Maultiere in Betrag gezogen haben » [4]
Mirabeau wollte die französische Nationalversammlung bewegen, die philosophische Position der
Menschenrechtserklärung mit ihrer politischen Haltung gegenüber den Kolonien in Übereinstimmung zu bringen. Aber die Erklärung sprach von den »Rechten des Menschen und Bürgers« - ein Titel, der, wie Tzvetan Todorov festgestellt hat, bereits den Kern eines Widerspruchs enthält (Todorov 1989, S. 4). Im vorliegenden Fall trug der Bürger den Sieg über den Menschen, zumindest über den nichtweißen Menschen, davon. Die Nationalversammlung gewährte den Zuckerkolonien der Karabik lediglich sechs Abgeordnete, was mehr war, als ihnen aufgrund der Anzahl an weißen Bewohnern zugestanden hätte, aber erheblich weniger, als wenn die Versammlung die vollen politischen Rechte von Schwarzen und gens de couleur anerkannt hätte. Nach den Rechenmaßstäben der Realpolitik brachten eine halbe Million Sklaven auf Saint-Domingue/Haiti und mehrere hunderttausend in den anderen Kolonien genau drei Deputierte ein – weiße, wie sich von selbst versteht.
Die Leichtigkeit, mit der die Nationalversammlung über ihre eigenen Widersprüche hinwegging, war charakteristisch für die gesamte Praxis der Aufklärung und erinnert an die Mechanismen, aufgrund deren die schwarzen Sklaven in den Vereinigten Staaten nur zu drei Vierteln als Personen zählten. Jacques Thibau bezweifelt, dass die Zeitgenossen damals einen Widerspruch zwischen dem Frankreich der Sklavenhalter und dem Frankreich der Philosophen erblickten: »War nicht das westliche, überseeische Frankreich ein integraler Bestandteil des aufgeklärten Frankreich?« [5]
Louis Sala-Molins schlägt vor, zwischen der Befürwortung der Sklaverei und dem zeitgenössischen Rassismus zu unterscheiden: Man konnte (aus praktischen Gründen) gegen erstere sein und dennoch (aus philosophischen Gründen) nicht gegen letzteren. Voltaire war bekanntlich ein Rassist, sprach sich aber dennoch mehrfach eher aus praktischen Gründen denn moralischen Gründen gegen die Sklaverei aus. Dasselbe gilt für David Hume: Auch er glaubte nicht an die Gleichheit der Schwarzen, hielt jedoch wie Adam Smith die ganze Sklavenwirtschaft für zu teuer. In Frankreich und England nahmen die Argumente, die in formalen politischen Zusammenhängen gegen die Sklaverei vorgebracht wurden, ungeachtet der Massenbewegung des britischen Abolitionismus und seiner religiösen Obertöne, eine überwiegend pragmatische Form an.
Nichtsdestoweniger brachte die Aufklärung einen Perspektivenwechsel mit sich. Die Idee des Fortschritts, die inzwischen bestätigt worden war, implizierte eine Vorstellung von der Möglichkeit der Vervollkommung des Menschen. Daher konnten auch Untermenschen zumindest theoretisch vervollkommnet werden. Der Sklavenhandel ging seinen Gang, doch je näher das Jahrhundert sich dem Ende zuneigte, desto vehementer wurde die Sklavenwirtschaft in Frage gestellt. Statt dessen wurde die Vervollkommung zu einem Argument in der praktischen Debatte: Der verwestlichte Andere erschien zunehmend als profitabler, wenn man ihm zum freien Lohnarbeiter machte. Ein französischer Bericht aus dem Jahr 1790 faßt diesen Gedanken trefflich zusammen: »Vielleicht ist es gar nicht unmöglich, den Neger zu zivilisieren, ihn an Prinzipien zu gewöhnen und einen Menschen aus ihm zu machen: Man könnte mehr an ihm verdienen als nur durch seinen Kauf und Verkauf « [6] Schließlich sollte auch der Antikolonialismus einer kleinen, elitären, aber lautstarken Gruppe von Philosophen und Politikern nicht unterschätzt werden.[7]
Die in der Metropole vorgebrachten Vorbehalte zeitigten in der Karibik und in Afrika nur eine sehr begrenzte Wirkung. Der Sklavenhandel sogar zwischen 1789 und 1791 sogar zu, indes die französischen Philosophen und Politiker in Paris leidenschaftlicher denn je zuvor über Menschenrechte debattierten. Nur wenige Politiker oder Philosophen griffen in ein und demselben Atemzug und mit ein und derselben Vehemenz sowohl Rassismus als auch Kolonialismus und Sklaverei an. Wie in England vermischten und ergänzten sich auch in Frankreich die Argumente für den Kolonialismus, die Sklaverei und den Rassismus, ohne jedoch vollständig ineinander aufzugehen. Und dasselbe gilt für die Gegenpositionen. Daher gab es viele verschiedene Standpunkte.[8]
Doch bei aller Vielfalt der Positionen bestanden Zweifel nicht an der westlichen Überlegenheit als solcher, sondern höchstens an ihrem angemessenen Einsatz und an ihren Folgen. Die Histoire des deux Indes, die 1774 unter dem Namen von Abbé Raynal erschien und deren antikolonialistische Passagen von dem Philosophen und Enzyklopädisten Denis Diderot inspiriert – oder gar, wie manche vermuten, geschrieben – wurden, war die vielleicht radikalste Kritik am Kolonialismus aus dem Umfeld der französischen Aufklärung.[9] Aber auch dieses Werk stellte die ontologischen Annahmen, die dem kolonialen Unternehmen zugrunde lagen, nämlich dass die Unterschiede zwischen den Menschen nicht nur graduell, sondern prinzipiell, nicht historisch, sondern unhintergehbar seien, niemals vollständig in Frage. Die Vielstimmigkeit des Buches minderte außerdem seine Wirkung im Kampf gegen die Sklaverei.[10]
Bonnet weist zu Recht darauf hin, dass die Histoire einerseits einer unveränderlichen Vision vom edlen Wilden anhängt, doch andererseits die Segnungen des menschlichen Fleißes und Unternehmungsgeistes preist.[11] Hinter der Radikalität Diderots und Raynals stand letzten Endes die Idee einer effektiveren Verwaltung der Kolonien. Dazu gehörte, wenn auch auf lange Sicht und im Rahmen eines Prozesses, der zu einer besseren Kontrolle der Kolonien führte, die Abschaffung der Sklaverei.[12] Der Zugang zum Status eines Menschen führte nicht eo ipso zur Selbstbestimmung. Kurzum, auch hier wurde wie bei Condorcet, Mirabeau und Jefferson zwischen verschiedenen Graden des Menschseins unterschieden.
Man wird längst verstorbenen Autoren schwerlich vorwerfen können, dass sie uns selbstverständliche ideologische Ansichten nicht teilten. Um zu vermeiden, dass das Problem durch den Ruf nach politischer Korrektheit trivialisiert wird, möchte ich noch einmal betonen: Ich behaupte nicht, die Männer und Frauen des 18. Jahrhunderts hätten dieselben Auffassungen wie wir heute über die fundamentale Gleichheit aller Menschen haben sollen. Ich behaupte ganz im Gegenteil, dass sie solche Auffassungen gar nicht haben konnten. Aber ich versuche, aus dem Verständnis dieser historischen Unmöglichkeit eine Lehre zu ziehen. Die Haitische Revolution stellte selbst die radikalsten ontologischen und politischen Positionen der europäischen Aufklärung in Frage. Die Geschehnisse, die Saint-Domingue zwischen 1791 und 1804 erschütterten, stellten eine Abfolge von Ereignissen dar, für deren Verständnis selbst die extreme politische Linke in Frankreich und England keinen begrifflichen Bezugsrahmen besaß. Was sich dort ereignete, waren für westliche Begriffe »undenkbare « Tatsachen.
Pierre Bourdieu definiert das Undenkbare als dasjenige, zu dessen Erfassung die geeigneten begrifflichen Werkzeuge fehlen. Er schreibt: »Zum Undenkbaren einer Epoche gehört nämlich alles, was mangels ethischer oder politischer Disposition, es zu berücksichtigen oder einzubeziehen, nicht gedacht werden kann, aber auch alles, was man mangels geeigneter Denkwerkzeuge wie Problemstellungen, Begriffe, Methoden, Verfahren nicht denken kann.« [13] Das Undenkbare ist das, was innerhalb des Spektrums möglicher Alternativen nicht begriffen werden kann, was alle Antworten auf den Kopf stellt, weil es die Begriffe untergräbt, in denen die Fragen formuliert wurden. In diesem Sinne war die Haitische Revolution zu ihrer Zeit undenkbar: Sie sprengte den Begriffsrahmen, innerhalb dessen sowohl Befürworter wie Gegner sich über Rasse, Kolonialismus und Sklaverei in Nord- und Südamerika verständigten.
Thursday, 23 February 2012 at 14:31
© Transkription, Titel: Boua / Kagemni Djikeungoué Pente
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[1] Die meisten dieser Pamphlete einschließlich der hier zitierten finden sich in der Serie Lk12 in der Bibliothèque Nationale in Paris. Andere wurden durch die französische Regierung abgedruckt(z.B. Assemblée Nationale 1791/92)
[2] Adas 1989, Kap. 2. Psalmanazars Schwindel über den Kannibalismus weckte deswegen zwischen 1704 und 1764 in Europa so großes Interesse, weil er mit genau diesen Vorurteilen spielte; siehe Todorov 1991, S. 134-141. Ein früheres Beispiel für Bewunderung und Verachtung des Orients sind John Chardins Travels, wo die Perser zunächst als »Heuchler, Betrüger und die falschesten und unverschämtesten Schmeichler der Welt« und zwei Seiten später als »das zivilisierteste Volk des Ostens« bezeichnet werden (Chardin 1988, S. 187-189)
[3] Jordan 1968; Daget 1973; Cohen 1980; Lewis 1983, Kap.3; Duchet 1987; Boulle 1988; Sala-Molins 1992
[4] Archives Parlementaires 1789, Bd. 8, S. 186
[5] Thibau 1989, S. 92
[6] Duchet 1971, S. 157; Hervorhebung M.-R. Trouillot
[7] Zum Antikolonialismus in Frankreich siehe Benot 1987 und 1992
[8] Geggus 1989; Daget 1973; Sala-Molins 1992
[9] Duchet 1978; Benot 1970 und 1987
[10] Duchet 1978; Delon 1991; Benot 1991
[11] Bonnet 1984, S. 416
Zu der in der Histoire des deux Indes impliziten Konstruktion der europäischen Zivilisation, siehe Vidan 1991.
[12] Siehe Sala-Molins 1987, S. 254-261. Wann immer die Histoire auf Autonomie zu sprechen kam, war diese »hoffnungslos weiß«, wie Benot treffend formulierte (Benot 1991, S. 147).
[13] Bourdieu 1987, S. 15
Das Undenkbare bezieht sich ebenso auf die Welt des Alltagslebens wie auf die Sozialwissenschaften; siehe Bourdieu 1987, S. 100, 199, 237 und 289.
Quellen:
- Jenseits des Eurozentrismus, S. Conrad/S. Randeria(Hrg.), 2002, S. 84 ff.
- In "Silencing the Past: Power and the Production of History", 1995, 70 ff.
- Übertragung aus dem Englischen: Robin Cackett
- Bild 1 © Cent ans
- Die HAITIsche Revolution und das Versagen der europäischen Ontologie und Kategorien - Teil 1/3
- Die HAITIsche Revolution und das Versagen der europäischen Ontologie und Kategorien - Teil 2/3
- Die HAITIsche Revolution und das Versagen der europäischen Ontologie und Kategorien - Teil 3/3
(kommt bald...)
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