von Peter Horn (Kapstadt)
culture, like money, "goes only to the rich" (1)
"Nun gibt schon der starke und durch keine Reinlichkeit zu vermeidende Geruch der Neger Anlaß zu vermuten, daß ihre Haut sehr viel Phlogiston aus dem Blute wegschaffe, und daß die Natur diese Haut so organisiert haben müsse, daß das Blut sich bei ihnen in weit größerem Maße durch sie dephlogistieren könne, als bei uns geschieht .."(2) Was an diesem Text auffällt, ist nicht nur, daß er gegen alles verstößt, was heute politisch korrekt ist, sondern daß er dies mit dem besten wissenschaftlichen Gewissen tut, noch in seiner Fachterminologie an der Grenze dessen, was Chemiker damals für die letzte Weisheit hielten. Aber auch wenn der organischen Chemie das Phlogiston abhanden gekommen ist, das Vorurteil ist erhalten geblieben, auch wenn man vergessen hat, daß man sich dabei auf keinen geringeren als Immanuel Kant berufen kann. Immer wieder taucht das Bild auf, in der Literatur. So erzählt Wilhelm Raabe in Abu Telfan von: "hundertundfünfzig übelduftende[n] Neger[n] und Negerinnen mit sehr regelmäßigen Affengesichtern".(3) Das Exotische aber, das man angeblich nicht riechen kann, fasziniert Europa und erzeugt gleichzeitig Abscheu:
Des Sudans Neger, fettig und beleibt,
Die Luft durchschreiend, brüllend wie ein Stier.(4)
Oder ist es gerade das Abscheu erregende, das fasziniert? Ist nicht gerade das, was man mit Mühe und viel Seife verdrängt hat, der eigene Geruch, an den man nicht erinnert werden will und den man doch begehrt. Was zwischen Kulturen vor sich geht, ist vor allem etwas, was in einer Kultur selbst vor sich geht. Weil man das eigene Barbarische und Unberechenbare verdrängt hat, ohne je mit ihm wirklich fertig geworden zu sein, sind die Exoten barbarisch und unberechenbar:
Die Neger hacken mit den Bronzebeilen
Die Hände ab den Toten in dem Staube,
Und füllen Ledersäcke mit dem Raube.
Ihr Zanken schallt herum beim Beuteteilen.(5)
Selbst dort, wo man sich um das Fremde mehr Mühe gibt, kann man dem vorauseilenden Urteil der Klischees nicht entrinnen. Unsere Fähigkeit, neue Eindrücke zu verarbeiten und zu strukturieren ist nicht unbegrenzt, so daß wir dazu neigen, bekannte Elemente einer uns neuen natürlichen oder sozialen Umwelt zu betonen und uns an ihnen zu orientieren, alles andere aber als "fremd" von uns abzuwehren. In dieser Situation entsteht der Begriff der "Kultur" sowohl der eigenen als auch der Fremden als Versuch, jenes Fremde kognitiv als »verschieden« zu erfassen. Das Bewußtsein Österreicher, Deutscher oder Europäer zu sein, verdrängt das Bewußtsein Mensch zu sein, und eben diese Differenz wird zum operativen Moment in einer kolonialen Situation. Karlheinz Ohle zeigt am Beispiel von Kolumbus den Vorgang einer »interkulturellen« Begegnung mit einem "Fremden" so:
Als Kolumbus am 12. Oktober 1492 als erster Europäer den Strand der kleinen Karibikinsel Guanahani betrat, [...] war [er] zwar nicht sicher gewesen, was ihn wohl erwarten würde, doch war ihm die Umgebung eigentlich nicht fremd im Sinne von unbekannt und unsagbar. Er kannte das Meer, den Wind, den Strand, und als er diesen betreten hatte, waren auch die Wesen, die ihn begrüßten, für ihn ohne weiteres als Menschen zu identifizieren. [...] Sicher waren ihm die einzelnen Erscheinungsweisen dieses neuen Landes nicht in ihrer jeweiligen Singularität bekannt, aber sie waren auch nicht fremd in dem Sinne, daß sie für ihn nicht identifizierbar und mit Sinn auffüllbar gewesen wären. Andererseits gab es natürlich eine ganze Reihe von Dingen, die bis zum Zeitpunkt der Wahrnehmung kognitiv fremd gewesen waren und jetzt einer sinnhaften Auffüllung und damit einer Normierung bedurften.(6)
Hier und nie in der Geschichte der Kolonisation aber war solche Kodifizierung des Fremden - seine Ent-Fremdung - harmlos: einfach Erkenntniszuwachs. Immer war da implizite und offene Gewalt:
So forderte das im kognitiven Sinne Fremde die [Kolonisatoren] dazu heraus, es zu ent-fremden. In welcher Weise das im Laufe der Zeit geschah, ist bekannt. Die Indianer wurden ausgerottet und versklavt, das Land rigoros kolonialisiert und ausgebeutet.(7)
Kultur zielt, indem sie offene und verschleierte Gewalt anwendet, auf "eine Einheit und Ganzheit",(8) und hat immer eine einschließende und eine ausschließende Definition. Daran ändert sich auch wenig, wenn man anstelle einer deutschen Nationalkultur etwa eine "abendländische" setzt: wesentlich ist, wie man die Grenzlinien zieht. Einschluß und Ausschluß haben fast immer eine drastische Auswirkung auf die Lebensqualität der so Gekennzeichneten, am stärksten natürlich dort, wo wie in Südafrika diese "kulturellen Unterschiede" gesetzlich verankert, politisch relevant, und in einem staatlichen Geburtenregister verzeichnet sind.(9)
Andererseits gibt es heute, im Zeitalter des Postkolonialismus, kein Anderswo mehr! Das Fremde ist ein für alle Mal ent-fremdet worden. Wir reisen nur noch, um in fernen Ländern das wiederzuentdecken, was zu Hause unsichtbar geworden ist.(10)Das was als besondere "deutsche", "afrikaanse", "japanische", oder "mexikanische" Kultur gilt, ist heute im Wesentlichen von der Art eines Kulturreservats: künstlich für Touristen erhaltene Enklaven, trotz oder wegen der heute in Europa wieder aufkommenden Nostalgie für Heimat und Region, im Gegenzug gegen die ungeliebte Kultur der Multinationals und der Meganationen. Natürlich gibt es No-Spiele, Trachtenfeste, Narrenzünfte, volksspele, Reservate für Aborigines und Maraes für Maoris. Aber das, was einmal fremd an der anderen Kultur war, hat längst, von "National Geographic" in wunderschönen Farbfotos und neuerdings in aufwendigen Videos vermittelt, nur noch den Reiz einer künstlich am Leben gehaltenen touristischen Sonderbarkeit: "Hier ein paar touristische Tips: Erleben Sie in Johannesburg die exotischen Tänze der Minenarbeiter … jeder neue Urlaubstag verspricht Ihnen ein neues, faszinierendes Erlebnis… Ihre Lufthansa - in der ganzen Welt zu Hause."(11) Was wir zu sehen bekommen, ist immer schon das Fremde, das für den touristischen Blick zurechtgemacht ist. Gerade das aber verstellt den Blick mit neuen Klischees.
Hier nur ein Beispiel: Die gewiß interkulturell gutwilligen Organisatoren des Fin de Siècle Festivals in Nantes in Frankreich, 1997, reduzierten Südafrika zum Stereotyp des Apartheidsgefängnisses einerseits - Das Café Litteraire war mit Stacheldraht dekoriert - und wünschten sich Exotisches andererseits: die Franzosen, deren Bild von Südafrika durch den Zulu-Krieg geprägt ist, in dem einer ihrer Prinzen fiel, wollten Zulu-haftes, den Rhythmus der Zulusprache, wobei es sie nicht störte, daß Lesego Rampolekeng ein Sotho und Sandile Dikeni ein Xhosa sind. Auf dem Poster des Festivals präsentierte sich Südafrika als ein schwarzes Paar in viktorianischer Kleidung, gewiß etwas veraltet, wenn man auf jedem Fernseher Präsident Mandela in seinen berühmten bunten Mandela-Hemden bewundern kann. Aber alte Klischees vererben sich von Generation zu Generation. Gorillas und Schwarze liegen auch heute noch nahe aneinander. Sandile Dikeni erzählt von einem Gorilla-Theater in Deutschland - wenn es doch wenigstens ein Guerilla-Theater gewesen wäre - wo ein sogenannter Afrikaner in einem Gorilla-Fell zu vage afrikanischen Trommelgeräuschen das gewünschte Bild des "Wilden" neu belebte. Ähnlich hatten die Organisatoren des Nantes-Festival nicht so sehr nach Bildern des neuen Südafrika als nach Stammesritualen Ausschau gehalten, als sie sich in Südafrika nach Material für ihr Festival umsahen: die rituelle Schlachtung einer Ziege interessierte sie viel mehr als die Rituale der modernen Township Soweto.(12)
Umgekehrt dürften die südafrikanischen Künstler, die nach Nantes eingeladen wurden, auch ihre Stereotypen von Frankreich oder Europa mitgebracht haben, sonst wären Sie über eben diese Stereotypen nicht so überrascht gewesen. Weder Rousseau noch Lévi-Strauss, weder die "edlen Wilden" des 18. Jahrhunderts noch die "traurigen Tropen" des 20. Jahrhunderts dürften ihnen bewußt gewesen sein, die als heruntergekommene Klischees noch heute in den Medien und den Köpfen zirkulieren. Ich nenne diese beiden Namen hier nicht zufällig, denn in ihnen manifestiert sich der Diskurs von "Natur" und "Kultur", von "Affe" und "Mensch", der unserem Thema grundlegend eingeschrieben ist. Der Kulturimperialismus der Kolonialzeit hat gleichzeitig mit dem Begriff der nicht allgemeinmenschlichen, sondern ethnisch, territorial und sprachlich gebundenen Kultur die Kulturwissenschaften (Ethnologie, Anthropologie) hervorgebracht. Deren Konstrukte sind solcher Art, daß die menschliche Realität in (hierarchisch angeordnete) Kulturen eingeteilt wird, die pseudo-darwinistisch auf einer je verschiedenen Stufe eines dann wieder universal gedachten Fortschritts angesiedelt sind, beziehungsweise die auf so verschiedenen Bahnen sich bewegen, daß eine wahre Kommunikation zwischen ihnen unmöglich ist. Bestenfalls »denken« dann die »Primitiven« wie unsere Kinder,(13) mit denen wir immerhin eine kulturelle Grundlage gemeinsam haben, schlimmstenfalls wird der Andere in ein jenseits der Kultur verwiesen, wird bloße Natur. Diese Vorstellung schreibt sich noch in solche Terminologie wie "Entwicklungsland" ein, und bestimmt eine Art der Reklame für den Tourismus, die Wildreservate und Eingeborenenreservate als komplementäre Attraktionen eines Öko- und Kulturtourismus anpreist. Versteckt unter touristischer Buntheit und Gleichförmigkeit wird jenes Bewußtsein weiter wachgehalten, das allen Kulturen außer der eigenen (österreichischen, deutschen, europäischen, amerikanischen, weißen) das Attribut des Minderwertigen verleiht, gerade gut genug für folkloristische Neugier: gewollt oder ungewollt gerade auch von denen, die »Kultur« als nationale oder ethnische »Kultur« als Begriff in den Diskurs der Völkerverständigung einführen.
So setzt sich der Ethnologe, der Anthropologe, der kulturkompetente Kulturvermittler, auch wenn er scheinbar streng empirisch und deskriptiv zu verfahren scheint, dem Verdacht aus, vorschreiben zu wollen, was zu tun und was zu lassen sei. Ein solcher Verdacht wurde bereits von afrikanischen Philosophen und Anthropologen ausgesprochen. Auch der Anthropologe Johannes Fabian kritisiert die Verleugnung der Gleichzeitigkeit aller menschlichen Kulturen der sogenannten "Dritten Welt", die sich einem solchen "Inter" jetzt als "unterentwickelte" ungleichzeitige "Entwicklungsländer" darstellen. Unter Verleugnung der Gleichzeitigkeit versteht Fabian eine systematische Tendenz die Referenten der Anthropologie in eine andere Zeit als die Gegenwart des Produzenten des anthropologischen Diskurses zu verweisen.(14)
Und Derrida bemerkt: "immer, wenn der Ethnozentrismus mit viel Eile und Lärm gestürzt wird, lauert hinter dem Spektakel im stillen irgendein Vorstoß in der Absicht, das Drinnen zu festigen und aus alledem seinen Nutzen zu ziehen."(15) Das Wort "interkulturell" suggeriert gleichzeitig die Möglichkeit eines Gesprächs und den letztlich unüberwindbaren Gegensatz, die "Fremdheit", der meist national oder ethnisch konstituiert gedachten Kulturen. Nach hermeneutischem Muster sieht man so gleichzeitig die Unverständlichkeit der anderen Kultur von der eigenen her und tritt in den hermeneutischen Zirkel ein, der dann doch eine Verständigung erlaubt, die das Nichtverstandene aber nie ausschöpfen kann, da den Kulturen angeblich eben jene mythische Inkommensurabilität eignet, die letztlich die Sprachen, in denen sie sich äußern, unübersetzbar machen. Verständigung und Unverständnis im ewigen Zirkel: das hält den ökonomischen Kreislauf im Gang, der es erlaubt, Ströme von Rohstoffen und Arbeitsleistung abzuzweigen, die Länder jener »drittrangigen« Welt auf immer »unterzuentwickeln«.
Es gibt zu denken, wenn man erfährt, daß gerade faschistische Ethnologen "vehement für die Konservierung und Schaffung von Tradition in Afrika ein[traten] … Um ein kritisches Bewußtsein und die Bildung von Gewerkschaften … zu verhindern, schlägt [der faschistische Ethnologe Richard Thurnwald] zwei Methoden vor … : 1. gezielte Konservierung, Bewahrung und, wo notwendig Wiederbelebung der Tradition vor allem in Dörfern, und 2. Arbeiterkolonien mit dörflichem Charakter in der Nähe von weißen Siedlungen zu schaffen."(16) Solche künstlichen Traditionen wurden ja auch den Einwohnern der Bantustans in Südafrika von Amts wegen verordnet, als eine ihnen angeblich eigene Kultur.
Die Ethnologen, diese Komplizen des Kolonialismus und Neokolonialismus,(17) verurteilen damit scheinbar den vom Kolonialismus selbst in Gang gebrachten Prozeß, der die Eigenständigkeit der Kolonisisierten und damit ihre "Kultur" zerstörte, "im Namen [...] eines kulturellen Lebens, wie es sich im Rahmen der Kolonialsituation entwickelt hat. [...] Die Kolonialisten sind es, die sich zu Verteidigern des Eingeborenenstils aufwerfen",(18) um dem Neokolonialismus eine ideologische und administrative Basis zu verleihen. "Polemisch gesagt: Die »Dritte Welt« darf bloß Tradition aber keine Geschichte, bestenfalls eine Ethnogeschichte [...] besitzen,"(19) die als »imaginäre Ethnographie« (F.Kramer) der »Dritten Welt« als »authentisch« verordnet und diktiert wird.
Nicht jeder Versuch, auf kulturellen Unterschieden, auf der Fremdheit des Anderen zu beharren ist gleich Faschismus. Aber interessant ist doch, daß das »Fremde« und die »fremde Kultur« gerade in den letzten zehn Jahren wieder zum Problem wurde: haben nicht auch in Südafrika diejenigen, die die problematischen Zustände geschaffen haben, den native zu einem native-problem gemacht? Warum muß man, wie Dietrich Krusche, eine "extrem weite Distanz zwischen den historischen Bedingungen der Textproduktion einerseits und der Textrezeption andererseits" postulieren, um sie dann »interkulturell« "als überbrückbar zu erproben"?(20) Solche Kompetenz im Überbrücken wird dann sehr schnell zur Autorität. Und hat man erst einmal festgestellt, daß jede Kultur in ihrer eigenen Zeit lebt, dann wird jenes Dazwischen, das die Anthropologen und »interkulturellen« Litgeraturwissenschaftler bewohnen, notwendigerweise zu methodologischem Status erhoben, von dem aus die Fremdheit der anderen Kulturen mit freundlichen Bemerkungen zur fraternité aller Menschen garniert werden kann.(21)
Will man die Kontrolle über die ehemaligen Kolonialgebiete aufrechterhalten, muß man stets neue Strategien anwenden. Nicht zuletzt, weil die Kolonisierten selbst zu sprechen beginnen. Dieses von den Neo-Kolonialisten unkontrollierte Sprechen muß wieder unter Kontrolle gebracht werden: Wissen über das "Fremde" ist nötig, der "Fremde" muß sagen können, wer er ist, damit man ihn weiterhin, diesmal ferngelenkt, manipulieren kann, "to sustain the new, vast, anonymous, but terribly effective regimen of absentee colonialismus", um Johannes Fabians Formulierung zu zitieren.(22) Das Gespräch "zwischen" soll verhindern, daß der so definierte "Andere" ohne Dazwischen ("inter"), ohne Vermittlung des "kulturkompetenten" Mittlers spricht.
Christian Neugebauer analysiert die Funktion von Kultur und sogenannter Tradition in den neo-kolonisierten Ländern so: "Besagte Ethnologie wirft sich als der bessere Mensch auf, der die von ihm erfundene Tradition bewahren will und sich selbstgefällig in die Pose des Sprachrohrs für die Verdammten dieser Erde wirft. Auch hier doppelt die Perfidie: Nicht nur, daß eine ehemalige Kolonialwissenschaft die Unabhängigkeitsbewegungen neuerlich auf eine subtile Art und Weise instrumentalisieren will, großherzig ihnen IHRE Kultur zurückgeben möchte, neuerlich die Intellektuellen der ‘Dritten Welt’ zischelnd vom Papier drängen und entmündigen möchte sei still und bleib authentisch Du assimiliertes Aas -, fördert sie schließlich eine Apartheidpolitik und Nationalchauvinismus. Wer heute Tradition konserviert, setzt die Politik des Imperialismus auf ideologischer Ebene fort. So die Kritik afrikanischer Intellektueller, die nahezu unisono die Ethnologie als Herrschaftswissenschaft des (Neo-)Kolonialismus ablehnen."(23)
Erste Voraussetzung für eine andere Auffassung des "Interkulturellen" ist, das Element des Nationalen und Ethnischen im Kulturbegriff auf sein Maß zu reduzieren.(24) Was wir entdecken, wenn wir den Begriff der "Nationalkulturen" einmal in Frage stellen, in Hongkong wie in Manila, in Kinshasa wie in Mexico, in Auckland wie in Teheran, ist eine im wesentlichen "amerikanische", nämlich kapitalistische Kultur also einerseits, "fürs Volk", weltweit und, wie schon Brecht bemerkte, durchaus allgemein verständlich, selbst für die, die kein Englisch können, die Kultur eines Kapitalismus, der heute mehr denn je als "freie Marktwirtschaft" Grund hat sich auf die eigene Schulter zu klopfen; und eine andere, elitäre, eurozentrische Kultur, die sich die feinsten Essenzen aus alledem angeeignet hat, was die Welt, was der Iraq, China, der Iran, Ägypten, Griechenland, Rom, Indien, der Islam, das europäische Mittelalter, Afrika, Rußland, Asien, die amerikanischen Indianer und die weltweite Kultur der Neuzeit hervorgebracht haben. Denn so abgeschottet war noch keine Kultur, daß sie nicht rechts und links sich holte, was ihr fehlte, und was sie brauchen konnte, nicht nur von benachbarten Hochkulturen, sondern auch von sogenannten "primitiven" Kulturen. Jede Kultur ist schon die Sprachen verraten es so eine Mixtur, die immer schon andere Kulturen enthält.
Nichts ist leichter, als sich mißzuverstehen, auch wenn man, vor allem wenn man "dieselbe" Sprache spricht, eine Erfahrung, die man gerade heute, wo alle Welt Englisch spricht, immer wieder machen muß. Man glaubt sich zu verstehen und spricht doch unweigerlich aneinander vorbei. Man wird sich damit abfinden müssen, daß man in einer globalisierten Welt nicht immer verstanden wird und daß man in dieser Welt nicht alles verstehen kann. Die Rede von "interkultureller Kompetenz" kann bestenfalls bedeuten, zwischen zwei oder drei Kulturen einigermaßen "übersetzen" zu können und die schlimmsten Mißverständnisse zu verhindern. Niemand kann all jenes sprachliche, kulturelle, religiöse, geschichtliche Wissen haben, das ihm erlauben würde an jedem Ort der Welt verstanden zu werden, wobei noch gar nicht reflektiert ist, daß jene Orte ja in sich selbst nicht einheitlich sind: auch ein Österreicher versteht nicht alles, was in Österreich gesagt oder geschrieben wird.(25) "Das aber bedeutet, daß die ethnographische Begegnung, als Situation mensch-menschlicher Fremdheit par excellence, eine kulturelle Universale ist, wahrscheinlich die einzige, die wir haben. Wenn uns auch sonst nichts verbinden sollte miteinander, dann zumindest unsere Fremdheit. Und darüber müßte man sich doch verständigen können."(26)
Kann man die menschliche Realität, fragt Edward Said, in "Kulturen" zerteilen, und die Konsequenzen solcher Einteilungen menschlich überleben? Heißt von (National)Kulturen reden nicht, das "Menschliche" verwerfen, heißt es nicht, wie Bourdieu gesagt hat, verwerfen, was allgemein, leicht und unmittelbar zugänglich ist?(27) Nicht, daß ich hier die "menschliche Natur" gegen "Kultur" ausspielen möchte. Aber der »Andere«, der »Fremde« dieser »interkulturellen« Anthropologie sind schließlich Menschen, die in unserer Gegenwart leben, unsere Zeitgenossen.(28) Solange wir, wie immer implizit und unbewußt davon ausgehen, daß es Menschen "dritter Klasse" in einer "Dritten Welt" gibt, leugnen wir diese Gleichzeitigkeit ebenso, wie wenn wir die »wahre Kultur« eines Landes immer nur einer Elite zuschreiben. Das Beharren auf einer menschlichen Realität bedeutet weder den Glauben an eine menschliche Heilsgeschichte (sei sie nun religiös oder säkulär) noch das Postulat einer mythischen Geschichte der universalen Vernunft, sondern allein die Erkenntnis, daß die Gleichzeitigkeit aller Menschen die Möglichkeit und die Bedingung einer wirklichen dialektischen Begegnung zwischen Personen und Gesellschaften ist.(29)
© Peter Horn (Kapstadt)
home.gif (2030 Byte)buinst.gif (1751 Byte) Inhalt: Nr. 5
Anmerkungen
(1) Michel de Certeau, The Practice of Everyday Life. Berkeley: University of California Press 1984, S.165.
(2) Immanuel Kant, Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse. Werke in zehn Bänden. Bd. 9: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Erster Teil. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft [A413] S.79.
(3) Wilhelm Raabe, Abu Telfan, in Ausgewählte Werke in sechs Bänden, hg. von Peter Goldammer und Helmut Richter, Berlin: Aufbau, 1964-1966. Bd. 4, S. 30.
(4) Georg Heym, Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe, hg. von Karl Ludwig Schneider, Hamburg, München: Ellermann, 1960 ff. Bd. 1, S. 25
(5) Heym: Dichtungen und Schriften. Bd. 1, S. 31.
(6) Karlheinz Ohle, Das Ich und das Andere. Grundzüge einer Soziologie des Fremden. Stuttgart: Gustav Fischer 1978, S.25f.
(7) Ohle, Das Ich und das Andere, S.26.
(8) Bausinger, Hermann, "Zur Problematik des Kulturbegriffs". In: Alois Wierlacher (Hrsg.), Fremdsprache Deutsch. Grundlagen und Verfahren der Germanistik als Fremdsprachenphilologie. Band I München: Wilhelm Fink Verlag 1980, S.60.
(9) Während ich dies schreibe, wurde angekündigt, daß das Gesetz auf zukünftige Geburten nicht mehr angewandt werden sollte. Dennoch gilt es, bis eine neue Verfassung beschlossen wird, weiterhin für die, die bereits so erfaßt sind.
(10) Certeau, The Practice of Everyday Life, S.50; vgl. auch Alexander Honold, Das Fremde verstehen – das Verstehen verfremden: Ethnographie als Herausforderung für Literatur- und Kulturwissenschaft, TRANS 1 (1997): "Allerdings wissen wir auch, daß sich gegenüber diesem Bild einiges geändert hat, denn paradoxerweise hat die wachsende Mobilität ein solches Dortsein im emphatischen Sinne eher schwieriger gemacht - ebenso wie unsere medialen Armaturen das Sehen mit eigenen Augen."
(11) "Dossier 2 Apartheid als Geschäft. Ein deutsches Postskriptum" Kursbuch 2 (August 1965), S.137.
(12) Heather Robertson, French cultural festival keeps Africa in the dark. In: Sunday Times. 9 November 1997, S. 28.
(13) Vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik. Stuttgart: Reclam 1971, S.430 vergleicht die Symbole der altpersischen, indischen, ägyptischen Kunst, die ihm "nicht recht geheuer" (S.429) sind, mit denen der Kindermärchen. Allerdings gibt er zu, "Kinder begnügen sich mit solcher Oberflächlichkeit von Bildern und deren geistlosem, müßigen Spiel und taumelnden Zusammenstellung. Die Völker aber, wenn auch in ihrer Kindheit, fordern einen wesentlicheren Gehalt, und diesen finden wir auch in den Kunstgestalten der Inder und Ägypter ...".
(14) Johannes Fabian, Time and the Other. How Anthropology makes its object. New York: Columbia University Press 1983, S.31. Und: "On the one hand, ethnographers, especially those who have taken communicative approaches (and that includes most ethnographers of value) have always acknowledged coevalness as a condition without which hardly anything could ever be learned about another culture." (Ebd. S.33.)
(15) Jacques Derrida, Grammatologie. Übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974: 142.
(16) R.Thurnwald, Bericht über die Organisierung der Eingeborenenarbeit in Ostafrika und ihre Gestaltungsmöglichkeit auf nationalsozialistischer Grundlage. Berlin 1937. Zitiert nach Neugebauer, Christian, "Zur Philosophie in Afrika. Vermischte Bemerkungen über einen verleugneten Diskurs". In: Isivivane, Berlin 1990.
(17) Fabian, Time and the Other, S.149: "We cannot exclude the possibility, to say the very least, that repetitive enactment of field research by thousands of aspiring and established practitioners of anthropology has been part of a sustained effort to maintain a certain type of relation between the West and its Other." Vgl. auch Honold, Das Fremde verstehen – das Verstehen verfremden: Ethnographie als Herausforderung für Literatur- und Kulturwissenschaft, TRANS 1 (1997): "Ethno-Graphie, das Beschreiben von Menschen, scheint eine Art Zwitter aus wissenschaftlicher Empirie einerseits, der die modernen Ethnologen ihre Reputation und Autorität verdanken ..., und subjektiv erlebter Fremderfahrung andererseits, deren Darstellungsformen eher mit literarischen Texten zu vergleichen sind, ... Was die ethnographische Tätigkeit aber zu einem auch für andere Kulturwissenschaften wichtigen Problemfeld macht, ist weder allein auf der Seite der Beschriebenen (Ethnologie) noch auf der des Beschreibenden (Ethnomethodologie) zu finden, sondern erst in der Situation, die beide einander als fremd konfrontiert. Die größere Faszinationsquelle liegt dabei, zumal im Blick auf die literarische Produktivität, nicht im systematisierten Wissen über bestimmte Gesellschaften oder Regionen, sondern auf dem Weg dahin: Was geschieht eigentlich, wenn etwas Unbekanntes oder Unverständliches als fremd wahrgenommen wird?"
(18) Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1966, S. 205.
(19) Neugebauer, Zur Philosophie in Afrika.
(20) Dietrich Krusche, "Die Kategorie der Fremde. Eine Problemskizze". In: Alois Wierlacher (Hrsg.), Fremdsprache Deutsch. Grundlagen und Verfahren der Germanistik als Fremdsprachenphilologie. Band I München: Wilhelm Fink Verlag 1980. S.48.
(21) Vgl. Johannes Fabian, Time and the Other, S.46f.
(22) Fabian, Time and the Other, S.69.
(23) Neugebauer, Zur Philosophie in Afrika.
(24) Bausinger, Hermann, "Zur Problematik des Kulturbegriffs", S. 61 weist auf die "Tatsache ..., daß wesentliche Muster und wesentliche Themen der Kultur längst übernational geworden sind".
(25) Gegen Auffassungen, die die Einheit innerhalb einer Kultur betonen, um sie umso besser gegen die anderen Kulturen abheben zu können, postuliert Michel de Certeau eine polemologische Analyse der Kultur, die Konflikte innerhalb der Kultur artikuliert und legitimiert. (Certeau, The Practice of Everyday Life, S.xvii.) Das Modell einer in sich antagonistischen Kultur hat sich als fruchtbarer erwiesen als das einer Konsenstheorie, die postuliert, daß selbst in "komplexen Gesellschaften alle Mitglieder, unabhängig von ihrer spezifischen Soziallage, in wesentlichehn Grundhaltungen, Normen und Werten" übereinstimmen. (vgl. Bausinger, Zur Problematik des Kulturbegriffs, S.62f) auch deswegen weil in einem antagonistischen Modell »abweichenden« Kulturmustern ihr eigenes Recht zuerkannt wird.
(26) Alexander Honold, Das Fremde verstehen – das Verstehen verfremden: Ethnographie als Herausforderung für Literatur- und Kulturwissenschaft, TRANS 1 (1997).
(27) Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1987, S.91.
(28) Fabian, Time and the Other, S.143.
(29) Vgl. Fabian 1983, Time and the Other, S.154: "Answers to these questions, if there are any at the present time would depend on what can be said, positively, about coevalness. If it meant the oneness of Time as identity, coevalness would indeed amount to a theory of appropriation (as for instance, in the idea of one history of salvation or one myth-history of reason). As it is understood in these essays, coevalness aims at recognizing cotemporality as the condition for a truly dialectical confrontation between persons as well as societies."
21.04.09
QUELLE
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