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Apostel der Gewalt oder revolutionärer Humanist? - Zur Aktualität von Frantz Fanon

Apostel der Gewalt oder revolutionärer Humanist? - Zur Aktualität von Frantz Fanon

von Philipp Dorestal

Als Frantz Fanon den französischen Philosophen Jean-Paul Sartre im Juli 1961 um ein Vorwort für sein Buch "Die Verdammten dieser Erde" bat, ahnte er wohl nicht, welches Eigenleben Sartres Einleitung entwickeln würde. Denn der dort zu findende berühmt-berüchtigte Satz: "Einen Europäer erschlagen, heißt zwei Fliegen mit einer Klappe treffen" wurde künftig mit dem Namen Fanon assoziiert. Damit war die Interpretationslinie für die zukünftige Rezeption dieses Werkes vorgegeben. Viele LeserInnen begnügten sich mit der Lektüre des Vorwortes und konsultierten allenfalls noch das erste Kapitel "Von der Gewalt", und somit schien die Message klar zu sein: Fanon liefere eine Apologie der Gewalt.

Frantz Fanon wird am 20. Juli 1925 auf der französischen Überseeinsel Martinique geboren. Im Lycée trifft er auf Aimé Césaire, einen der Begründer der Négritude, der Fanons theoretische Entwicklung stark beeinflusst. 1947 beginnt Fanon in Lyon Medizin zu studieren, findet aber neben seinen Pflichtveranstaltungen noch die Zeit, sich intensiv mit dem französischen Existenzialismus Maurice Merlau-Pontys und vor allem Jean-Paul Sartres auseinander zu setzen. 1952, ein Jahr nach Erlangung seiner Doktorwürde, veröffentlicht er sein erstes Buch "Schwarze Haut, weiße Masken", eine "Soziodiagnose" der antillanischen Entfremdung. Fanon spezialisiert sich daraufhin auf Psychiatrie und nimmt, nachdem er ein einjähriges Praktikum absolviert hat, 1953 in der französischen Kolonie Algerien eine Stelle als Chef der psychiatrischen Klinik in Blida-Joinville in der Nähe von Algier an.

Ein Vorwort mit Folgen

Im Dezember 1954 beginnt der Algerienkrieg. Die französische Armee versucht in dessen Verlauf mit extremer Brutalität die Unabhängigkeitsbestrebungen der algerischen Bevölkerung zu unterdrücken. Bis zur Proklamation der Unabhängigkeit am 3. Juli 1962 werden ungefähr eine Million AlgerierInnen und auf französischer Seite um die 27.000 Menschen getötet. Fanon sieht sich unmittelbar mit den Kriegsauswirkungen konfrontiert. Als Psychiater behandelt er Folteropfer. Er schließt sich der algerischen Befreiungsbewegung FLN an und versteckt gefolterte FLN-Kämpfer vor der französischen Armee. 1956 beschließt er angesichts des immer weiter eskalierenden Krieges aus Protest seine Stelle zu kündigen und begibt sich nach Tunis, wo er neben seiner Tätigkeit als Arzt auch Redakteur der FLN-Zeitung El Moudjahid ist. Darüber hinaus vertritt er die FLN auf internationalen Tagungen so erfolgreich, dass er mehrere Male Ziel von Mordversuchen wird, denen er jedes Mal nur knapp entkommt. Ende 1960 wird bei Fanon Leukämie diagnostiziert. Fanon beginnt im Sommer 1961 wie ein Besessener an "Die Verdammten dieser Erde" zu arbeiten und stellt dieses Buch innerhalb von zwei Monaten fertig. Am 3. Dezember kann Fanon noch die ersten Druckexemplare begutachten, erliegt aber drei Tage später seiner Krankheit.

In "Schwarze Haut, weiße Masken" versucht Fanon mit Hilfe einer originellen Kombination von Psychoanalyse, Existenzphilosophie, Literatur sowie autobiografischen Überlegungen die durch eine rassistische Gesellschaft hervorgerufenen Phänomene der Entfremdung schwarzer Menschen auf den Antillen zu fassen. Insbesondere aus Sartres Hauptwerk "Das Sein und das Nichts" erhält Fanon wichtige Impulse für seine eigene Fragestellung. In diesem Buch entwickelt Sartre seine Phänomenologie des Blickes.

Analog dazu spricht Fanon davon, dass in einer von rassistischen Denkmustern durchzogenen Gesellschaftsformation Schwarze durch den Blick der Weißen oftmals zu einem Objekt gemacht werden. Der rassistische Blick ist von Stereotypen über Schwarze so determiniert, dass deren Subjektstatus quasi negiert und sie auf ihre Physiognomie reduziert werden. Der Begründer der Cultural Studies Stuart Hall fasst diesen Prozess sehr eloquent zusammen, wenn er schreibt: "Fanons ,Neger` ist nicht nur gefangen, fixiert, entleert und zum explodieren gebracht in der fetischistischen und stereotypisierten Dialektik des ,Blicks` vom Platz des Anderen aus; sondern er/sie wird - hat kein anderes Selbst als - dieses Selbst-als-zum-Anderen-gemachte." (1) Der rassistische Blick ist also ein Produkt des Kolonialismus und von diesem ideologisch kontaminiert: Die Kolonialherrschaft degradiert Sklaven auf die Ausübung von körperlichen Tätigkeiten und ihnen werden positive Attribute wie intellektuelle Kapazität, "Zivilisation" etc. abgesprochen. Der schwarze Mensch ist für den Rassisten bloßer Körper, weil jener nur als Körper die Legitimation der kolonialen Unterdrückung gewährleistet: Nur ein Wesen, dessen Bestimmung als sich in der Verrichtung manueller Tätigkeiten erschöpfend fantasiert wird, kann ohne moralische Widersprüche vom Sklavenhalter in Unfreiheit und brutaler Unterdrückung gehalten werden.

Fanon erhält auch einige Anregungen von der berühmten Herr-Knecht-Dialektik aus Hegels "Phänomenologie des Geistes", kritisiert jedoch, dass dieses Schema die koloniale Ausbeutungsbeziehung zwischen Kolonisator und Kolonialisiertem nur unzureichend wiedergibt. Während Hegel glaubt, das Herr-Knecht-Verhältnis als gegenseitigen Kampf des jeweiligen Bewusstseins um Anerkennung fassen zu können, entgegnet Fanon: "Für Hegel gibt es Reziprozität; hier (in der kolonialen Gesellschaft) lacht der Herr über das Bewusstsein des Sklaven. Was er vom Sklaven will, ist nicht Anerkennung, sondern Arbeit." (2) Hier wird die asymmetrische Beziehung zwischen Herr und Sklave benannt, die sich subtiler in postkolonialen Gesellschaften fortsetzt. Dies lässt sich wiederum am rassistischen Blick festmachen: Der schwarze Mensch erscheint aus der Perspektive des Weißen als minderwertig, aber umgekehrt ist der Weiße mit seinen "Errungenschaften" Zivilisation, Kultur, kurz Intellekt, nachahmenswert. Deshalb spricht Fanon davon, dass der schwarze Mensch in eine neurotische Situation geworfen wird, wenn er in einer weißen Gesellschaft lebt, die deren Überlegenheit gegenüber der schwarzen Bevölkerung proklamiert.

Schwarze Haut, weiße Masken

Auf Martinique, das überwiegend von Schwarzen bewohnt wird, sind diese Menschen in der Schule und im kulturellen Leben immer wieder mit der Tatsache konfrontiert, dass die weiße europäische Kultur als erstrebenswert gilt, während das afrikanische Erbe der AntillanerInnen als primitiv abqualifiziert wird. Will die schwarze Person also als gebildet und kultiviert gelten, muss sie sich - metaphorisch gesprochen - eine weiße Maske aufsetzen. Das Verlangen, die positiven Attribute der weißen Kultur zu adaptieren, geht einher mit der Übernahme des Deutungsmusters von der Unzivilisiertheit der afrikanischen Gesellschaften. Als Antwort auf diese Abwertung versuchte die so genannte Négritude-Bewegung in den 1940er und 1950er Jahren die Existenz einer schwarzen Geschichte und Zivilisation herauszustellen. Fanon sah sich in "Schwarze Haut, weiße Masken" gleichwohl zu einer Kritik dieser maßgeblich von seinem früheren Lehrer Aimé Césaire und dem späteren Präsidenten vom Senegal, Léopold Senghor, geprägten Strömung veranlasst.

Zwar hält er das Bedürfnis, für die Herausbildung eines schwarzen Selbstbewusstseins die positiven Aspekte afrikanischer Kulturen in den Fokus zu nehmen, für durchaus legitim. Er merkt jedoch gleichzeitig an, dass die Négritude lediglich die Vorzeichen in dem binären Schema weiß = zivilisiert, schwarz = primitiv umkehrt und in einem zu kritisierenden Manichäismus verhaftet bleibt. Die Rückkehr zu den alten afrikanischen Traditionen ist für Fanon ebenso wenig ein Ausweg wie die gewaltsame Anwendung des europäischen Entwicklungsmodells auf den afrikanischen Kontinent durch den Kolonialismus.

"Schwarze Haut, weiße Masken" ist ein in weiten Strecken brillanter Text, enthält allerdings auch einige problematische Passagen. Während Fanon außerordentlich scharfsinnig die rassistische Konstruktion des schwarzen Mannes als äquivalent mit den biologischen Attributen kleines Gehirn, großer Penis, kurz intellektuell minderwertig und sexuell hyperpotent analysiert, reproduziert er bei der Darstellung der Situation schwarzer Frauen teilweise sexistische Stereotype.

In Fanons letztem Werk "Die Verdammten dieser Erde" spiegeln sich seine Erfahrungen als Arzt inmitten des Algerienkrieges ebenso wider wie die Anfang der 1960er Jahre immer weiter fortschreitende Dekolonisation des afrikanischen Kontinents. Es ist deshalb auch wenig verwunderlich, dass die Rolle der Gewalt als zentrales Thema den ganzen Text von Fanon durchzieht. Er versucht Gewalt als kathartischen, d.h. der Selbstreinigung dienenden Prozess zu fassen, der quasi unerlässlich und positiv zu bewerten sei, damit das kolonialisierte Subjekt seinem Status als subaltern entkommen kann. Die psychischen und vor allem physischen Schäden, die das "kolonialisierte Ding" durch den Kolonialherren erlitten hat, kompensiert es mit Gewalt: "Der kolonialisierte Mensch befreit sich in der Gewalt und durch sie. Diese Praxis klärt den Handelnden auf, weil sie ihm Mittel und Zweck zeigt." (3) Es muss hier aber ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass diese therapeutische Funktion der Gewalt von Fanon nur als Gegengewalt der Kolonialisierten gefasst wird. Sie ist nicht an sich zu bejahen, sondern nur in einer bestimmten historisch-konkreten Situation als legitim anzusehen.

Die Verdammten dieser Erde

Fanon formuliert dies an einer späteren Stelle im Buch ganz explizit: "Wenn wir das algerische Beispiel gewählt haben, so nicht, um unser Volk zu glorifizieren, sondern um die Bedeutung zu zeigen, die der Kampf, den es geführt hat, für seinen Bewusstseinsprozess hatte. Es ist klar, dass andere Völker auf anderen Wegen zu dem gleichen Ergebnis gekommen sind. In Algerien war, wie man heute weiß, die Kraftprobe unvermeidlich, aber andere Gebiete kamen durch ihren politischen Kampf und die Aufklärungsarbeit der Partei ihrer Völker zu den gleichen Ergebnissen." (4) Die Kolonialisierten sind demnach im Kolonialismus durch die Unterdrückung und Gewalt quasi entsubjektiviert worden. Die Gegengewalt der zum Objekt verkümmerten Kolonialisierten bedeutet, dass sich diese durch Selbstorganisation, Widerstand und Gewalt (auch im symbolischen Sinne) zuallererst wieder zu Subjekten konstituieren. Solche Passagen sowie die Fallbeispiele im Kapitel "Kolonialkrieg und psychische Störungen", wo Fanon die pathologischen Folgen exzessiver Gewaltanwendung schildert, lassen sich also schwerlich mit dem gern kolportierten Bild des Gewaltpredigers Fanon vereinbaren.

Interessanterweise zeichnet sich in der Beschäftigung mit Fanon in den letzten Jahren die Tendenz ab, sich wieder stärker mit dessen Erstlingswerk auseinander zu setzen. Während in den 1960er und 1970er Jahren noch der Verfasser der "Verdammten dieser Erde" als Ikone der antikolonialen Befreiungsbewegungen gefeiert wurde, waren seine frühen Schriften so gut wie unbekannt. Im Zuge der Etablierung der so genannten Postcolonial Studies vor allem in den USA Anfang der 1990er Jahre wendet man sich nun hingegen wieder vermehrt "Schwarze Haut, weiße Masken" zu, wobei Fanon dabei häufig als Poststrukturalist avant la lettre gelesen wird, der schon sehr früh eine Dekonstruktion binärer Ordnungen betrieben hätte.

Gegen die extremen VertreterInnen beider Interpretationsrichtungen ist der legitime Einwand erhoben worden, Fanon aus seinem historischen Kontext zu reißen. Weder ist "Die Verdammten dieser Erde" eine Beschreibung der kurz bevorstehenden Revolution der Afro-AmerikanerInnen in den USA, wie das der Black- Power-Aktivist Stokeley Carmichael zu glauben schien, noch ist "Schwarze Haut, weiße Masken" von einem "schwarzen Lacan" verfasst worden, wie das der Nestor der Postcolonial Studies, Homi Bhabha, nahe legt. An Stelle dieser strikten Grenzziehung zwischen "frühem" und "späten" Fanon wäre zu wünschen, dass die künftige Rezeption sich wieder stärker auf die theoretischen Kontinuitäten innerhalb des Werkes dieses brillanten Denkers besinnen würde.


Anmerkungen:

1) Im Original: "but he/she becomes - has no other self than - this Self-as-Othered." Stuart Hall: The After-life of Frantz Fanon, in: Alan Read (Hg.): The Fact of Blackness. Frantz Fanon and Visual Representation, London/Seattle 1996, S. 17

2) Frantz Fanon: Schwarze Haut, Weiße Masken, Frankfurt/M. 1980, S. 157

3) Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt/M. 1981, S. 72

4) ebd. S. 164